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11 Seiten

Chironian Story 003: Der Aufbau

Romane/Serien · Spannendes
Neues Leben bedeutet Verantwortung und Verantwortung ist das, was die Kinder übernehmen, wenn sie erwachsen werden. Völker werden erwachsen, doch bevor sie soweit sind, durchleben die meisten Völker eine Zeit der Grausamkeit und des Hasses auf die eigene Rasse. Im Laufe dieser Entwicklung lassen sie die erst nur primitiven Lebensbedingungen hinter sich und lernen die Schätze des Geistes richtig zu gewichten. Der Fortschritt hält Einzug und von dem dunklen Magier bis hin zum großen Wissenschafter werden alle Phasen durchlaufen. Bis schließlich eine Kultur geschaffen werden kann, deren Reichtum ehrlich erarbeitet und aufgebaut ist. Aller Anfang ist schwer, doch es gibt auch Rassen, die noch im Stadium des Erwachsenseins den Neuanfang eines ganzen Volkes machen müssen.

Der Aufbau

Isabel sog zufrieden den Duft der Lucartus-Blüte ein. Stolz sah sie auf den einfachen, roten Blütenkranz, der den mit goldenem Blütenstaub gefüllten Kelch einrahmte. Ein leicht süßlicher Geruch ging von der Pflanze aus und Isabel konnte sich an dem schwachen Duft beinahe berauschen. Der Duft stand für etwas Natürliches. Die Lucartus blühte erst seit diesem Morgen und seither konnte sich Isabel nicht von der Pflanze losreißen, die ihr ihr Vater Maldan sofort nachdem er sie gesehen hatte, gezeigt hatte. Obwohl Isabel es hasste, von ihrem alten Vater geweckt zu werden, hatte sie beim Anblick der Blüte alles um sich herum vergessen.
Das Gewächshaus, in dem ihr Vater jetzt schon seit über 30 Jahren arbeitete, war Isabels Lieblingsplatz. Was für jeden Chironian galt, denn seit der Ankunft auf Thulenia hatten die Chironians in dem viel zu kleinen Kolonialisierungsschiff leben müssen. Zwar hatten Maldan und die anderen sofort damit begonnen, den Planeten zu bewirtschaften, doch war es ihnen bisher erst gelungen, ein großartiges Gewächshaus, eine winzige Schule, ein Speisehaus und Schlafsäle zu errichten. Die Gebäude waren alle vernetzt mit durch Kraftfelder isolierten Gängen und führten in das Zentrum der kleinen Ansiedlung: dem Kolonialisierungsschiff.
Maldan hatte nie viel über die Vergangenheit erzählt. Weder ihr noch ihrem zwei Jahre älteren Halbbruder Zorkon. Sie wusste nur, dass der Name des Planeten vom Namen einer besonderen Freundin ihres Vaters abgeleitet wurde, was Maldan auch den Rest seines Lebens großen Respekt verschafft hatte. Isabels Vater war alt und er hatte die Kolonie allein mit Hilfe des berühmten Ebulastaudensamens soweit gebracht, dass die Gebäude zwar noch immer mit den Filtern aus dem Kolonialisierungsschiffs belüftet wurden, doch im Gewächshaus konnte man bereits wirkliche, frische, natürliche Atemluft genießen.
Ehrfürchtig ging Isabel auf den kleinen Strauch zu, der das Zentrum des Gewächshauses bildete. Sachte berührte sie die dornigen Äste. Diese Ebulastaude war der Anfang gewesen, dachte sie stolz. Sie war inzwischen von einem gut gepflegten Samen zu einer für ihre Art mächtige Staude geworden und war der Ausgangspunkt für all das grüne Blattwerk, das Maldan mehr oder weniger gezüchtet hatte. Und jetzt blühte die Lucartus und war ein weiteres Zeichen für Leben und Fortschritt. Eines Tages würde dieser Planet auch ohne Kraftfelder und Schutzanzüge bewohnt werden können. Vielleicht würden ihre Kinder tatsächlich in einem grünen Wald unter freiem Himmel spielen dürfen…

Das spöttische Lachen eines jungen Mannes drang an ihr Ohr und verdrängte die Wunschträume.
"Wieder einmal beim Tagträumen?" fragte Zorkon grinsend.
"Wenigstens vergesse ich nicht, wie unser Leben einmal werden wird!" erwiderte sie trotzig.
"Wie schon gesagt: du träumst. Glaubst du denn wirklich, so etwas erleben zu können?"
"Manchmal kannst du wirklich wehtun."
Zorkon nickte. "Ich weiß. Aber im Gegensatz zu dir bleibe ich realistisch."
"Tust du das wirklich? Oder bist du nicht einfach nur ein zu großer Pessimist?"
Zorkon zuckte mit den Schultern. "Vielleicht. Aber wenigstens mache ich mir keine allzu großen Hoffnungen."
"Worin?"
"In die Zukunft!"
"Bist du hergekommen, um mit mir zu streiten?"
"Nein, ich bin hier, um die Luft zu genießen und um ein wenig mit jemandem zu reden."
"Also hat dir Vater nicht gesagt, was passiert ist?" fragte sie, bemüht, den begeisterten Unterton in ihrer Stimme ein wenig zu zügeln.
Zorkon sah sie verwundert an. "Wovon redest du? Maldan ist heute noch nicht einmal bei Mutter gewesen. Warum sollte er mir irgendetwas Tolles erzählen?"
Isabel zuckte zusammen. Der Vorwurf in Zorkons Stimme schmerzte sie, obwohl sie wusste, dass sein Zorn nicht auf sie gerichtet war. Obwohl sie wusste, dass Zorkons Wut gerechtfertigt war, hatte sie doch immer das Gefühl, ihren gemeinsamen Vater verteidigen zu müssen.
Pflichtschuldig fragte sie ihn: "Wie geht es deiner Mutter?"
Zorkon schüttelte nur den Kopf und sah in die Luft. "Weißt du, kleine Schwester, sie liegt im Sterben."
Das wusste Isabel. Und es tat ihr weh. Doch sie konnte nichts dagegen unternehmen. Keiner konnte das. Zorkons Mutter war schon lange krank. Ihr Abwehrsystem hatte nie wirklich genug Kraft gehabt, sich mit dem harten Leben, das sie früher geführt haben musste, und von dem weder Zorkon noch Isabel viel wussten, auseinanderzusetzen. Die gefährliche Strahlung im Weltraum hatte sie schlimmer getroffen, als die anderen Chironians. Ganze 30 Jahre hatte sie schließlich auch mitgeholfen, um die Kolonie bewohnbarer zu machen, doch schlussendlich hatte ihr Immunsystem versagt und ein Tumor im Hirn war herangewachsen. Maldan hatte Zorkon nur mit ihr gezeugt, um das Weiterleben seines Volkes zu garantieren. Genauso, wie Isabel nicht aus einer Verbindung von Liebe, sondern von Pflichtgefühl entsprang. Trotzdem war Maldan ihr ein guter Vater gewesen, auch wenn er ihre Mutter zwar mochte, aber sein Leben doch lieber allein mit den Pflanzen verbrachte.
Zorkon jedoch schien Maldan dafür zu beschuldigen, dass er sich nicht um seine Mutter kümmerte und ihr nicht half, diese Zeit durchzustehen. Der Junge war verbittert geworden und hatte meistens nur derbe und unangenehme Sprüche auf Lager. Isabel konnte das gut verstehen, aber sie wollte es nicht immer anhören müssen.
"Ich muss dir zeigen, was Vater geschafft hat!" wechselte sie bestimmt das Thema.
Zorkon sah sie prüfend an. "Was hat er denn so Großartiges geschafft?"
Isabel überhörte den Sarkasmus in seiner Stimme und nahm ihn bei der Hand. Sie führte ihn die Runde um die Ebulastaude herum und kam schließlich bei der Lucratus an. Fröhlich sah sie auf Zorkon und ließ den Eindruck der Blüte auf sich wirken.

Genau wie Isabel war Zorkon erst ein Jahrzehnt nach der Kolonialisierung gezeugt worden und hatte nie etwas anderes gesehen, als die Siedlung. Der Anblick der schlichten roten Blüte war atemberaubend. Fasziniert ließ er sich vor ihr auf die Knie sinken und berührte sachte die samtweichen Blütenblätter.
"Sie ist wunderschön."
Isabel nickte. "Ich weiß. Was bedeutet sie für dich?"
Zorkon sah auf. "Wie meinst du das?"
"Genauso, wie ich es sage! Was bedeutet diese Blume für dich?"
Verwirrt schüttelte Zorkon den Kopf. "Ich weiß nicht genau… was bedeutet sie denn für dich?"
Isabel lächelte geheimnisvoll. "Hoffnung."
Damit drehte sie sich um und ließ Zorkon sprachlos im Gewächshaus allein.

Zorkon blieb noch ein paar Minuten vor der roten Blüte hocken und bestaunte sie. Dann schüttelte er energisch den Kopf und stand auf. Er hatte keine Zeit den Tag mit träumen zu verbringen. Er musste zu seiner Mutter und ihr helfen.
Doch die Blume hielt seine Gedanken immer noch im Bann. Obwohl er sich immer wieder einzureden versuchte, sie sei nichts Besonderes und würde schließlich verwelken wie alle anderen Blumen, von denen seine Mutter ihm erzählt hatte. Nein, diese Blume war nichts Besonderes!
Warum tauchten die leuchtenden Farben dann immer wieder vor seinen Augen auf? Warum bekam er Isabels seltsame Antwort nicht mehr aus dem Kopf? Warum musste er immer wieder daran denken, dass diese Blume wirklich Hoffnung bedeuten konnte? Vielleicht weil es so war?
Unwillig schüttelte Zorkon den Kopf und vertrieb den Gedanken. Doch das Wissen, das Isabel wahrscheinlich Recht hatte, nistete sich unerbittlich in seinem Unterbewusstsein ein.
Als er endlich die Schlafsäle erreichte, vertrieb der Geruch von Krankheit, der aus dem Zimmer seiner Mutter kam, die verwirrenden Gedanken wenigstens für eine Weile. Das Zimmer war dunkel. Man hatte Natali ein Einzelzimmer zugewiesen, damit sie allein sein konnte, um sich zu erholen, wie es die Chironians ausdrückten. Doch Zorkon wusste, dass die anderen sich nicht mit dem Schreckensbild einer Kranken in ihrem Aufbau der Kolonie stören lassen wollten. Und obwohl sich Natali nie beschwert hatte, spürte Zorkon, wie schwer es seiner Mutter fiel, in Isolation zu leben. Zorkon war wütend auf die anderen und er war wütend auf seine eigene Machtlosigkeit.
Natali schlief, als Zorkon aber an ihr Bett trat, wachte sie sofort auf, als habe sie ihn gespürt. Zorkon schüttelte den Kopf und drückte sie sachte ins Bett zurück, als sie sich aufrichten und etwas sagen wollte. "Nicht, Mutter. Du musst dich ausruhen! Ich wollte dich nicht wecken."
Natali schüttelte nur den Kopf. In dem Halbdunkel, das durch die getönten Fenster drang, konnte man die Zeichen ihrer Krankheit nur erahnen. Sie sah einfach wie ein zu schwaches, mageres Mädchen mit faltigen Augen aus. Doch Zorkon wusste um die Symptome. Natalis Haare waren ausgefallen und ihr Schädel wirkte viel zu groß für den mageren Körper. Unter der Decke, die Natali bis zum Kinn gezogen hatte, zeichneten sich Arme und Beine deutlich heraus. Doch Zorkon wusste auch, dass die Gliedmaßen das Skelett so deutlich zeigten, als wäre unter der Haut kein Fleisch.
"Du hast mich nicht geweckt."
Zorkon schüttelte wieder den Kopf. "Lüg mich nicht an, Mutter."
Natali lächelte schwach. "Ich habe nur mehr einen leichten Schlaf."
Zorkon nickte gedankenverloren. "Hast du wenigstens gut geschlafen?"
"Ich habe Angst davor, wieder einzuschlafen. Die Schmerzen kommen dann gleichzeitig mit den Alpträumen. Ich möchte nicht allein sein. Bitte bleib bei mir." Natalis dürre Finger tasteten aus dem Bett hervor und suchten nach der Schulter ihres Sohnes. Als sie sie gefunden hatten, zog sie ihn mit erstaunlicher Kraft zu sich heran. "Lass mich nicht allein, hörst du?"
Zorkon befreite sich aus ihren Händen und fuhr mit den Armen hinter ihren Rücken, um sie an sich zu drücken. "Ich lasse dich nicht allein.", flüsterte er. "Keine Sorge, ich werde dich nie allein lassen."
Die Augen seiner Mutter klärten sich wieder und als sie ihn ansah, wurde ihr Blick traurig. "Aber das musst du. Du musst den anderen helfen, weiterzubauen. Du musst mit ihnen weiterleben. Ich bin hier nur mehr eine Last."
Verzweifelt schüttelte Zorkon den Kopf. "Was redest du da? Ich will dich nicht verlassen. Du bist für mich wichtiger als jeder andere!"
Natali nickte schwach und griff nach seinen Wangen. "Du bist ein guter Sohn. Ich werde dich vermissen! Aber du darfst nicht an mir festhalten. Die anderen brauchen dich."
Tränen traten in Zorkons Augen. "Und was ist mit mir? Ich brauche DICH!"
"Das Gründen einer neuen Welt ist immer mit Opfern verbunden. Du musst an dich und an deine Zukunft denken. Denk an das, was du erreichen kannst. Wenn du mit den anderen weiterbaust und die Anlage verschönerst und vergrößerst kannst du deinen zukünftigen Kindern alles bieten, was du dir ausmalen kannst. Ich bitte dich. Wenn du nicht an dich selber denkst, dann denk an die Generation die nach deinen Kindern kommt. Oder die nächste. Denk dran, dass auch du Opfer bringen musst, um diese Welt mit den anderen aufzubauen. Wir haben schon einmal an unserer Zukunft gezweifelt. Dank einer einzigen, tapferen Frau konnten wir diesen Planeten entdecken, denn wir hatten zu viel Angst, um mit ihr nach den Sternen zu suchen. Sie ist für diesen Planeten hier gestorben."
Still setzte sich Zorkon auf die Bettkante und wischte mit dem Handrücken über seine Augen. "Warum habt ihr eigentlich eure Welt verlassen?"
"Weil wir frei sein wollten. Du kennst die Geschichte nicht und ich bin nicht berechtigt sie dir zu erzählen. Ich will, dass du auch ohne dem schrecklichen Wissen um unsere Vergangenheit weiter machst."
"Aber warum?"
"Weil es unsere Bestimmung war, weiterzuleben, als alle anderen starben. Weißt du, es gibt nichts anderes mehr. Es gibt nur mehr uns und diesen Planeten. Willst du denn nur wegen deiner eigenen Bequemlichkeit die letzte Hoffnung zerstören, die das Leben in diesem Universum noch hat?"
Zorkon schüttelte verwirrt den Kopf. Dann stand er wortlos auf und ging aus dem Zimmer. Er würde seine Mutter nie wieder nach der Vergangenheit fragen. Doch sein Vater war ihm schon oft genug zu viel schuldig geblieben. Maldan würde ihm antworten…

Er fand Maldan in seiner Schlafkammer. Er hatte sich als einziger in der Kolonie das Privileg herausnehmen können, seinen Schlafplatz zu bestimmen. Außerdem war er freiwillig in einem Einzelzimmer – der einzige Luxus, den er sich seit Beginn der Kolonie geleistet hatte, obwohl die Chironians ihm dank seiner Verdienste beim Aufbau der Gebäude und beim Züchten der Pflanzen noch sehr viel mehr freiwillig gegeben hätten. Doch Maldan hatte sich nur diesen Schlafplatz direkt unter dem Dach des hohen Gebäudes gewünscht. Es war ein unangenehmer Ort, da Klima und Atemluft hier oben nicht sehr gut reguliert werden konnten. Doch Maldan hatte sich nie darüber beschwert. Er hatte sich über seinem Bett ein riesiges Fenster installieren lassen, das ihm Tag und Nacht das Bild des Weltraumes und der über tausend großen und kleinen Sonnen und Monde sehen ließ.
Zorkon wunderte sich, ob Maldan überhaupt schlafen konnte, denn in der Kolonie war die Nacht von drei Monden erhellt, die die Dunkelheit vertrieben. Maldan hatte darauf bestanden, dass das Fenster nicht von den praktischen Schließvorrichtungen gestört werden konnten. Es blieb also ewig hell in diesem Zimmer, denn es würde noch Jahrzehnte dauern, bis der erste natürliche Regen aus der eigenen Atmosphäre fallen würde. Bis dahin würde noch nicht einmal ein kleines Wölkchen die klare Sicht auf das Schauspiel von Licht und Schatten in der Abwechslung von Sonne und den drei Monden verhindern können.
Zorkon war froh, dass er als Chironian keine Lichtempfindlichkeit kannte. Andere Rassen, von denen er gehört hatte, wären in diesem Raum erblindet, wenn sie auch nur länger als ein paar Sekunden in den Himmel gesehen hätten. Doch die angeborene Gabe, im Dunkeln genauso scharf und weit sehen zu können wie im Hellen, würde auf diesem Planeten noch verkümmern, da es immer hell war.
Maldan lag auf seinem Lager und starrte schweigsam auf das Schauspiel der riesigen Sonne. Früher hatte er sich immer im Gewächshaus befunden. Doch als er älter wurde, wurde er noch schweigsamer und zurückgezogener, als er es immer gewesen war. Seine Gedanken hingen bei den Sternen und einzig die Sorge um das Fortbestehen der Kolonie hielt seine Gedanken in Grenzen und auf Thulenia zurück. Zorkon wusste nicht, was Maldan in den Sternen zu finden hoffte. Doch als er den alten Mann auf dem Bett liegen sah mit starren Gesichtszügen und einem Blick, der ins Leere ging, tat er ihm fast leid. Sein Zorn auf den Mann verrauchte und er zögerte, weiter in den hellen Raum zu treten. Doch Maldan hatte ihn bemerkt und lächelte ihn auffordernd an. "Komm her, mein Junge. Ich habe dich schon lange nicht gesehen."
Zorkon nickte. Ihm war der alte Mann auf dem Bett unangenehm. Er hatte sich immer eingeredet, dass Maldan Schuld an Natalis Krankheit hatte und an ihrer Einsamkeit. Es war leicht jemandem die Schuld zu geben, der sich von den Chironians zurückgezogen hatte und den man nicht ansehen musste. Solange er hinter dem Rücken Maldans schlecht über ihn reden hatte können, hatte er keine Angst zu haben brauchen, Maldan würde doch anders sein, als Zorkon ihn gerne haben wollte. Doch als er den Mann auf dem Bett betrachtete, überkam ihn einfach nur Mitleid. Er hatte seinen Vater nie gekannt.
"Warum bist du hier?"
Zorkon schreckte aus seinen Gedanken hoch und kam zögernd auf seinen Vater zu. Tausend Fragen hatte er sich überlegt. Jetzt fiel ihm keine einzige mehr ein, die auch nur im Mindesten der Situation angemessen war.
"Ich… ich wollte dich etwas fragen.", sagte er schließlich.
Das faltige Gesicht lächelte ihn auffordernd an. "Nun?"
"Nun, ich weiß nicht, wie ich beginnen soll!"
"Dann beginne ich. Wie geht es Natali?"
Die Frage nach seiner Mutter hätte Zorkon in jedem anderen Moment noch wütender gemacht. Jetzt erschien sie ihm entgegen seiner Erwartungen berechtigt.
"Sie… sie stirbt."
Maldan nickte. "Ich weiß. Das tun wir alle. Eines Tages. Auch ich bin nicht mehr der Jüngste, aber ich habe das Glück, dass weder Krankheit noch Schmerz meinen Weg auf Thulenia gekreuzt haben. Ich habe einer Welt beim Entstehen geholfen und ich habe zwei wundervolle Kinder."
Trotz dieser Anspielung auf sich und seine Halbschwester Isabel blieb Zorkon stumm.
"Was kann ein Mann sich mehr wünschen?"
"Aber du bist nicht glücklich…"
Maldan schüttelte den Kopf.
"Nein. Aber ich habe kein Recht mich zu beschweren."
"Was ist passiert? Warum sind wir hier auf diesem gottverlassenen Planeten und warum haben wir hier neu angefangen? Was wurde aus unserer Vergangenheit?"
Doch Maldan schüttelte den Kopf. "Nicht, mein Sohn. Vielleicht werde ich es dir sagen. Aber ich will nicht, dass die Vergangenheit die Zukunft zerstört."
Zorkon wurde wütend. Endlich, so dachte er, fand er wieder zu sich selbst. "Sag mir warum!"
"Wenn du es wirklich wissen willst, gebe ich dir die Logbücher des Kolonialisierungsschiffes. Ich brauche sie nicht und wenn du…"
Plötzlich ertönte das unnatürliche Zischen der Tür und Isabel stürzte herein. Ihre Haare waren aufgelöst und Schweißtropfen perlten von ihrer Stirn. In ihren Augen standen Tränen. "Vater…" Sie stockte, als sie auch Zorkon bemerkte. "Oh, Zorkon, es tut mir so leid." Isabel brach in Tränen aus und Zorkon rannte auf sie zu. "Was ist passiert? Isabel… sieh mich an und sag mir, was passiert ist!" Er rüttelte seine Schwester und langsam klärte sich ihr Blick wieder. Sie warf sich in Zorkons Arme. "Oh, Zorkon… Natali ist gestorben!"

Zorkons Gesicht war zu einer Maske erstarrt. Er sah auf den Leichnam herab und blieb stumm. Seine Schwester hatte ihre Hand auf seine Schulter gelegt. Sie strich sanft darüber und blickte ebenfalls stumm auf Natalis Körper herab. Maldan hatte sich hinter seine Kinder gestellt und um ihn herum das gesamte Volk der Chironians. Einer der Männer wollte gerade die Luke öffnen, um den Körper der Toten in das All zu befördern, da schüttelte Maldan schnell den Kopf und drehte sich wortlos um. Er lief so schnell seine alten Füße ihn tragen konnten davon. Die Leute sahen ihm nach. Nur Zorkon rührte sich nicht. Er kümmerte sich auch nicht darum, dass die Bestattung seiner Mutter nicht ordnungsgemäß erfolgte. Er starrte einfach nur den Körper seiner Mutter an.
Nach ein paar Minuten kam Maldan endlich zurück. In seinen Händen strahlte etwas rotes, das die meisten Chironians noch nie gesehen hatten. Es hatten noch so wenige die erste Blüte der Lucratus gesehen. Ein erstauntes Murmeln ging durch die Menge doch keiner beschwerte sich. Die Lucratus-Blüte gehörte Maldan und niemand wagte es, ihm dieses Recht zu verweigern.
Selbst Zorkon sah auf, als er bemerkte, was sein Vater getan hatte. Auf Isabels Gesicht spiegelte sich Erstaunen. Sie wusste, dass ihr Vater das nicht für jeden getan hätte. Maldan hatte nie gezeigt, wie viel Natali ihm bedeutet hatte.
Trotzdem zupfte Maldan eine der fünf großen Blütenblätter aus und legte es in Natalis Hände. Dann nahm er das zweite Blütenblatt und gab es seinem Sohn Zorkon. Auch Isabel erhielt eines. Die restlichen zwei aber behielt er.
Endlich durfte ein Chironian Natalis Körper dem All übergeben und nach einiger Zeit löste sich die Gemeinschaft auf.
Maldan stand noch lange an der Luke. Er bemerkte nicht, dass Zorkon ihn beobachtete. Maldan betrachtete noch einige Zeit die verbliebenen zwei Blütenblätter. Dann nahm er eines und schickte es mit einem Seufzer Natali nach. Wieder verlor sich sein Blick im Bild des Himmels.
"Wer war sie?"
Maldan drehte sich erschrocken um. Ruhig sah er Zorkon an.
"Wer war sie, dass du all das auf dich genommen hast?"
Maldans Gesicht wurde traurig. "Sie war unsere Führerin. Sie war meine Freundin."
"Nein. Sie muss mehr gewesen sein!"
Maldan nickte und plötzlich stahl sich ein leichtes Lächeln auf seine Lippen. "Das war sie, mein Sohn!" Und zum ersten Mal in seinem Leben ging Zorkon auf seinen Vater zu und umarmte ihn. Maldan lachte plötzlich Tränen. Und auch Zorkon überkam ein Gefühl von Wärme und Zufriedenheit. Und als sie sich endlich lösten, sah Maldan auf das letzte, rotleuchtende Blütenblatt, das ihm noch geblieben war. "Das gehört nicht mir. Es gehört uns. Es gehört den Chironians, die diese Welt in ihrem Andenken aufgebaut haben. Und in Erhaltung des Lebens." Und beide verließen den Raum mit der Hoffnung auf weiteres Leben und Gedeihen Thulenias.

Zorkon verschloss die Chipkarten in einem kleinen Kästchen, das er schließlich hinter den Pflanzen im Gewächshaus versteckte. Das schien ihm der angemessenste Platz auf Thulenia, um die Daten für die nächste Zeit vor den Augen einer wachsenden Zivilisation zu verstecken. Seine Gedanken schweiften an den Punkt zurück, an welchem Maldan ihm die Karten gegeben hatte.
"Unsere Vergangenheit ist schmerzhaft, aber sie hat uns stark gemacht. Wäre dieses Leben in Sklaverei und unsere Flucht das einzige Kapitel unserer Reise, hätten wir es euch nicht verschwiegen. Doch wie dir die Logbucheintragungen beweisen werden, hat unser Volk noch etwas viel schlimmeres erlebt. Wir haben miterlebt, wie unser Heimatplanet durch eine Katastrophe zerstört und vernichtet wurde. Und wir haben nur durch einen Wink des Schicksals eine Katastrophe überlebt, die die restliche Zivilisation ausgelöscht hat. Ich möchte, dass diese Kolonie lebt und stark wird, so wie wir immer waren. Die Verantwortung, das wahrscheinlich einzige Leben im Universum zu sein, ist zu groß, als dass sie nur knapp fünfzig Chironians so einfach auf sich nehmen könnten. Die Geschichte darf nicht in Vergessenheit geraten, aber sie soll ruhen, bis die Kolonie gefestigt und die Chironians wieder ein starkes Volk geworden sind."
Maldan hatte Recht. Die Zukunft sollte nicht wegen der Vergangenheit zerstört werden, die mit Maldan aussterben sollte. Das Warum interessierte die Kinder Thulenias noch nicht und sollten sie irgendwann einmal reif genug dafür sein, würde auch das Wissen um die Vergangenheit und um das Leben wieder zu der Bevölkerung dringen. Zorkons Hand griff nach dem Anhänger an seinem Hals. Isabel hatte das Lucratus-Blütenblatt für Zorkon in Stickstoff schock gefroren und es somit für die Ewigkeit präpariert. Sie selbst hatte sich dasselbe gemacht und das dritte Blütenblatt lag in einer kleinen, durchsichtigen Schatulle auf einem kleinen Podest im Gewächshaus. Dahinter hatte Zorkon auch die Logbuchaufzeichnungen versteckt. Zufrieden drehte er sich um und sah auf die Lucratus, deren Wuchs von lauter roten Knospen und Blüten gesäumt war. Das Leben würde weitergehen.
 
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